Besser leben im Miteinander
Revisited: Inklusionsprojekt Haus Miteinander – nach 20 Jahren wieder besucht
Tags: Holz-Hybrid, Kontextuelle Architektur, Ökologisch, Ökonomisch, Sozial, Integrativ, Nachhaltig, Teamwork, Design to Budget, Inklusion
Wie baut man ein zukunftsgerechtes Zuhause zum Leben und Arbeiten für Menschen mit Behinderung? Das war die Frage, die der Verein Miteinander e.V. vor über 20 Jahren unserem Büro stellte. Es folgte ein Planungs- und Realisierungsprozess, der heute noch die DNA von Werkstadt Fischer Architekten prägt. Jetzt war Projektleiter Dominik Wirtgen wieder im Haus Miteinander zu Besuch. Im Interview erklärt hier, warum das Projekt in mehrfacher Hinsicht eine Pionierleistung war.
Warum ist das Haus Miteinander so wichtig für die Entwicklung des Büros Werkstadt Fischer Architekten?
Dominik Wirtgen: Weil es im Sinne von Energieeffizienz seiner Zeit technologisch voraus war, aber auch unter einem sozialen Aspekt neue Wege aufgezeigt hat. Unser Ziel war es, ein Haus zu schaffen, das auch noch Jahrzehnte später für Menschen mit Handicap eine optimale Umgebung zum Leben und Arbeiten bietet.
Ziemlich genau 20 Jahre später nach der Eröffnung sind wir nun wieder im Objekt. Was ist der Eindruck nach dem Rundgang?
Dominik Wirtgen: Mein Eindruck ist, dass das Haus funktioniert. Ich sehe, wie die Menschen, die hier leben, das Gebäude ganz individuell für sich angenommen haben. Für viele Architekten ist es ja erst mal ein Realitätsschock, wenn man ein Haus, das man nur von seinen eigenen Plänen und 3D-Renderings kennt, bewohnt und voll mit individuellen Möbeln sieht. Hier finde ich es sehr berührend und bin auch wirklich stolz, denn in dieses Bauwerk haben wir sehr viel Arbeit und Liebe investiert. Direkt nach meinem Einstieg in das Büro konnte ich damals die Projektleitung übernehmen. Das war der Bauantrag gerade durchgewunken – und mit dem damaligen Büroleiter Cornelius Fischer habe ich mir damals die Bauleitung geteilt.
In einer sozialen Einrichtung wie dem Haus Miteinander muss Architektur eine Verbindung schaffen: Zwischen der Autarkie des selbstständigen Wohnens und dem sozialen Miteinander in der Gemeinschaft
Dominik Wirtgen
Was war die große Herausforderung bei der Planung?
Dominik Wirtgen: Es war anfangs gar nicht klar, welches Budget zur Verfügung steht. Das hat sich erst im Zuge des Projekts ergeben. Deshalb haben wir damals unseren Ansatz „Design to budget“ entwickelt, der heute Teil unseres Werkstadt-Prinzips ist: Weil es bei der Vergabe Unsicherheiten gab, wurden flexibel immer verschiedene Budgetvarianten entwickelt und angeboten. Es war ein prozesshaftes Arbeiten, das wir hier trainiert und dann zum Prinzip gemacht haben. Später kam dann eine hohe, hoffnungsvoll erwartete Förderung von der Dietmar-Hopp-Stiftung – und zum Glück waren dann die meisten Sorgen weg. Aber ich erinnere mich, dass es für jede bauliche Entscheidung ein zähes Ringen mit den Bauherren, dem Miteinander e.V. war.
Wie verlief diese Zusammenarbeit mit dem Verein?
Dominik Wirtgen: Sehr partnerschaftlich! Beim Verein gab es ein sehr großes Engagement und viel Enthusiasmus, aber auch hohe Qualifikation. Der 1. Vorsitzende Herr Schwarzwälder war damals Manager beim Unternehmen Freudenberg und hatte viel Wissen und Knowhow zur Finanzierung eines anspruchsvollen Bauprojekts.
Herr Schwarzwälder, Sie sind der Initiator des Projekts und waren lange 1. Vorsitzender des Vereins. Ihre Tochter lebt und arbeitet seit der Eröffnung hier in einem Apartment - und nun sind auch sie selbst eingezogen?
Rolf R. Schwarzwälder: Ja, denn es ist mir einerseits wichtig, hier bei meiner Tochter zu sein, anderseits genieße ich aufgrund meines Alters und meiner abnehmenden Mobilität hier das barrierefreie Leben.
Was war ihre Vision, als sie damals das Projekt "Haus Miteinander" gestartet haben?
Rolf R. Schwarzwälder: Der wesentliche Punkt war, dass wir als Eltern von Kindern mit Handicap realisieren mussten: Es gibt für unsere Kids keine Jobs, und sie brauchen eine Unterkunft, wo sie später gut leben können! Wir haben mit der Vereinsgründung dann den Anstoß gegeben für die Idee, ein Haus zu bauen, in dem ein gutes soziales Miteinander von Menschen mit und ohne Handicap möglich ist. Ein Ort, wo man trotz Behinderung möglichst autark leben kann, aber trotzdem umsorgt und betreut ist. Und dann brauchte der Verein einen Menschen, der diese Idee nicht nur denkt, sondern umsetzt – und das war dann halt ich.
Nachhaltigkeit ist ein elementarer Teil des Werkstadt-Prinzips. Warum ist das Haus auch heute noch ein gutes Beispiel für die Arbeitsweise des Büros Werkstadt Fischer Architekten?
Dominik Wirtgen: Heute reden alle über Nachhaltigkeit. Wir haben das hier schon vor 20 Jahren ganz selbstverständlich zum Thema gemacht. Da wie gesagt die Finanzierung schwierig war, stellten wir uns als Architekturbüro die Frage: Wie baut man ein Haus, das möglichst wenig Unterhaltskosten produziert und möglichst wenig Energie verbraucht? Uns war klar, wir wollen hier nachhaltig bauen: umwelt- und zukunftsgerecht. Ich persönlich kann sagen: In meinem Architektenleben gibt es Projekte, die mir persönlich besonders wichtig sind, weil sie Strahlkraft haben. Das Haus Miteinander gehört definitiv dazu, weil es in vielerlei Hinsicht ein Pionierprojekt war.
War das Haus Miteinander auch wegen der Holz-Hybrid-Bauweise seiner Zeit voraus?
Dominik Wirtgen: Heute ist Holz-Hybrid-Bau ja in aller Munde, aber damals war das noch sehr ungewöhnlich in Deutschland. Unsere Idee war es, eine Holz-Hybridkonstruktion zu verwenden, weil sich dadurch einen hoher Dämmgrad in der Außenfassade erzielen lässt und im Sinne der Nachhaltigkeit nachwachsende Rohstoffe eingesetzt werden können. Abgesehen von den Apartments haben wir darüber hinaus bewusst wenig beheizbaren Raum geplant. Der Laubengang beispielsweise ist allein durch die Sonneneinstrahlung klimatisiert. Geheizt wird mit Fernwärme, was aus heutiger Sicht eine gute Entscheidung war, denn der Anteil regenerativer Brennstoffe ist inzwischen recht hoch.
Es kamen Materialen wie ein Holzparkettboden zum Einsatz. Das ist für eine soziale Einrichtung eher ungewöhnlich.
Dominik Wirtgen: Die Eltern wollten hier das Bestmögliche für ihre Kinder realisieren. Ein wichtiger Aspekt war es deshalb für uns, eine sehr wohnliche Atmosphäre zu schaffen. Deshalb haben wir einen Eiche Parkett-Industrieboden verlegen lassen, der nicht nur robust ist, sondern auch gut aussieht. Die den rollstuhlgerechten Apartments sind für eine hohe Lebensqualität alle mit großzügigen Balkonen ausgestattet und es ist spezifische Technik im Einsatz: Die Türen der Rolli-Apartments sind alle mit automatischen Türantrieben ausgestattet.
Das Haus Miteinander hat im Mannheimer Stadtteil Schönau ein architektonisches Ausrufezeichen gesetzt - unter anderen mit seiner langgestreckten L-Form und einem Flachdach.
Dominik Wirtgen: Ja, wir haben hier tatsächlich für Dinge gekämpft, die wir im urbanen Kontext architektonisch sehr wichtig fanden, wie zum Beispiel das Flachdach. Die Elternvertreter wollten das anfangs nicht, aber wir konnten sie überzeugen. Umgekehrt haben wir hier viel gelernt. Als es beispielsweise um die Rollstuhlrampe ging, die wir nach Norm geplant hatten, haben die Rolli-Fahrer gesagt: Macht die Rampe bitte etwas steiler, sonst wird es für uns zu anstrengend, da raufzukommen. Wir haben es dann geschafft, das nicht klassisch barrierefrei durchzuboxen und gelernt, dass Normen nicht zwingend etwas Sinnvolles sind. Tatsächlich mussten wir hier aber viele Richtlinien und Normen des behindertengerechten Wohnens einzuhalten, denn für eine finanzielle Förderung müssen Vorgaben nun leider mal eingehalten werden.
Das Gebäude hat im Inneren eine ungewöhnliche Struktur mit außergewöhnlich breiten Treppenhäusern und Wegführungen. Was hat es damit auf sich?
Eine besondere Herausforderung und ein echtes Learning waren die besonders hohen Brandschutzauflagen. In einer Übernachtungsstätte für Menschen, die im Brandfall aufgrund einer Behinderung nicht selbstständig flüchten können, gelten spezielle Auflagen. Aus diesem Grund gibt es nicht nur ein, sondern zwei Treppenhäuser und sehr breite Verkehrswege: Im Notfall müssen zwei Feuerwehrleute Platz haben, um einen Menschen mit Handicap im Notfall heraustragen zu können. Um den Komfort zu erhöhen, wurde in beiden Treppenhäusern jeweils ein Lift installiert.
Herr Schwarzwälder, Sie leben heute selbst im Haus Miteinander. Was gefällt Ihnen hier besonders gut?
Rolf R. Schwarzwälder: Auf den Laubengang bin ich besonders stolz, der bringt Naturlicht ins Haus. Es ist eine Wohltat, wenn ich morgens die Tür aufmache und die Sonne lacht einen an, das ist wie im Hotel. Und natürlich finde ich es großartig, dass jedes einzelne Apartment einen schönen Balkon besitzt und die Qualität unseres Küchenbetriebs so hoch ist. Aber am meisten freue ich mich natürlich über die Tatsache, dass das Projekt Wirklichkeit geworden ist. Speziell die Finanzierung war ja eine große Herausforderung und ich bin stolz darauf, dass wir das alle mit gemeinsamer Kraft gemeistert haben – und das wir dank des Büros Werkstadt Fischer Architekten auch im Budgetrahmen geblieben sind.
Herr Aigenmann, Sie sind Geschäftsführer im Haus Miteinander und kennen aus Ihrer beruflichen Erfahrung zahlreiche soziale Einrichtungen in der Region. Was unterscheidet das Haus von anderen?
Tobias Aigenmann: Es ist ein absolut anderes, sehr angenehmes Ambiente in diesem Haus – ganz anders als anderen vergleichbaren Einrichtungen, die ich kenne. Ich war schon bei einem ersten Besuch hier sehr beeindruckt und später dann sehr froh, hier die Geschäftsführung übernehmen zu können. Diese sehr positive Atmosphäre im Haus ist auch das Pfund, das wir haben: Wer die Apartments hier sieht, will am liebsten gleich selbst einziehen.
Rolf R. Schwarzwälder: Als Herr Aigenmann 2016 hier eingestiegen ist, hatten wir – glaube ich 16 Bewohner, heute sind wir vollbelegt mit fast 30 Mietern, das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Die Bewohner zahlen Mieten, die über die Grundsicherung finanziert sind. Die Küche muss sich dabei selbst finanzieren – das ist die große Herausforderung. Da arbeiten Leute mit, die von Anfang dabei sind. Das war Learning by doing, und heute gibt es hier eine sehr gute Vollverpflegung.
Wir hat die Nachbarschaft seinerzeit auf den Neubau reagiert?
Rolf R. Schwarzwälder: Es war zunächst keine einfache Situation, denn Anwohnern fiel durch den Neubau der Hundeplatz und der Fußballplatz weg. Wir haben dann aber die Nachbarschaft in unser Restaurant eingeladen und Vorträge über unsere Arbeit gemacht – das hat sehr geholfen. Der Stadtteil Schönau hatte damals ja nicht den besten Ruf. Ich glaube schon, dass wir mit unserem Haus dazu beitragen konnten, den Ruf aufzuwerten.
Tobias Aigenmann: Heute rufen hier immer wieder Leute an, die auch so ein Projekt starten wollen. Ich sage dann immer: als erstes müsst ihr enorm viel Energie da reinstecken. Man muss so etwas mit viel Engagement selbst in die Hand nehmen, dann funktioniert es.
Frau Jolly, ihr Sohn lebt auch hier im Haus, seit 2018 sind Sie die 1. Vorsitzende des Vereins. Wie sehen Sie die Zukunft des Haus Miteinander?
Sieglinde Jolly: Sehr positiv, auch wenn die Corona-Pandemie uns natürlich ein bisschen gebremst hat. Ich leite hier unter anderem den Kulturausschuss im Haus – und nächstes Jahr wollen wir hier wieder richtig schöne Veranstaltungen anbieten.
Was ist das Fazit nach über 20 Jahren Haus Miteinander?
Dominik Wirtgen: In der Geschichte des Büros Werkstadt Fischer Architekten wird das Haus Miteinader auch in Zukunft ein Meilenstein bleiben. Es ist ein Symbol dafür, dass wir schon vor über 20 Jahren viele Methoden Techniken und ausprobieren und umsetzen konnten, die heute unser Werkstadt-Prinzip definieren. Seitdem sind integrale Planung und nachhaltige Konstruktion die Grundsäulen unserer Arbeit. Jedes unserer Bauwerke liefert seitdem einen Beitrag zur Gestaltung einer positiven urbanen Zukunft: Mit kontextueller Architektur, energieffizienten Methoden, ressourcenschonenden Materialien, partnerschaftlichem Arbeiten und integrativen Konzepten, die auch sozial einen nachhaltigen Mehrwert bieten.
Fotos: Archiv, Hartmut Nägele